In Kinderheimen und Psychiatrien wurden Kinder bis in die 1970er-Jahre systematisch sediert und zu Versuchsobjekten gemacht. Zu dem Ergebnis kommt eine Studie, die das Land NRW 2022 in Auftrag gegeben hatte.
Thomas Frauendienst erzählt seine Geschichte mit fester Stimme. 1964 wurde er geboren, mit Fehlbildungen an den Füßen und Beeinträchtigungen. Er kam direkt nach der Geburt in ein Heim in Volmarstein bei Hagen, auf die Station „für Kinder zur besonderen Verwendung“, erzählt er. Viereinhalb Jahr später wurde er entlassen, zurück in seine Familie: „Ausgehungert, Haut und Knochen“, er konnte kaum sprechen und habe gar nicht gewusst, was Eltern oder Verwandte überhaupt sind. Erst viele Jahre später fand er heraus, dass er als kleines Kind unzählige Male operiert worden war. Er wurde als Nummer 2.033 geführt.
Frauendienst ist einer der Betroffenen, eines der Kinder, die zwischen 1946 und 1980 in einem Heim, einer Psychiatrie oder einer anderen Einrichtung waren. Dass diese Kinder oftmals Gewalt oder Unrecht erlebt haben, ist schon länger bekannt. Dass sie systematisch ruhiggestellt und für Impftests missbraucht worden sind, das wurde in den letzten Jahren erforscht.
Nun ist auf fast 260 Seiten das Leid dieser Menschen erfasst. Die Studie wurde vom Land in Auftrag gegeben und hat Medikamentenmissbrauch untersucht. Sie bezieht sich auf verschiedene Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der stationären Behindertenhilfe und Psychiatrien sowie Heilstätten und Kurheime in NRW.
Abschlussbericht der Studie
Betroffene im Mittelpunkt
Ein Fokus liegt dabei auf Betroffenen, die ihre Erlebnisse schildern. Zum Beispiel die Geschichte eines Betroffenen, die sich in den 1960er-Jahren abgespielt hat. Im Bericht steht, er sei mit elf Jahren ins Franz-Sales-Haus Essen gekommen und bis zu seinem 18. Geburtstag geblieben. Ihm sei bis ins Erwachsenenalter nicht klar gewesen, warum er in der Einrichtung war.
Vor seinem Aufenthalt wurde bei ihm eine Punktierung vorgenommen – eine Untersuchung, bei der Hirnwasser entnommen wurde und die er als traumatisch beschreibt, weil er dabei in einer Zwangsjacke fixiert worden sei. Das Ergebnis der Untersuchung: „Schwachsinnigkeit“. Der Betroffene berichtet von verschiedenen Medikamenten, die er einnehmen sollte. Er geht davon aus, dass es sich dabei um Medikamententests gehandelt haben muss. Und er berichtet, dass er täglich an Suizid gedacht habe.
Die Forschungsgruppe rund um Prof. Heiner Fangerau der Universität Düsseldorf hat auch Zeitzeugen interviewt, Akten ausgewertet und Online-Befragungen durchgeführt: „Wir finden in NRW, dass der missbräuchliche Missbrauch flächendeckend stattgefunden hat und vor allem umfangreich ist“, sagt Fangerau.
Rund 20 Prozent betroffenDie Studie kommt zu dem Schluss, dass missbräuchlicher Einsatz von Medikamenten in NRW in verschiedensten Einrichtungstypen verbreitet war. Es sei von einem flächendeckenden Phänomen auszugehen mit einem bedeutenden Ausmaß. Nach konservativer Schätzung seien 15 bis 20 Prozent der jungen Menschen, die in den Einrichtungen waren, von missbräuchlichem Medikamentenmissbrauch betroffen.
Einige Medikamente wurden zu Forschungszecken verabreicht und Kinder so zu medizinischen Versuchsobjekten gemacht, heißt es in einer Mitteilung des Sozialministeriums. Auch sei die Medikamentengabe oft mit Gewaltpraktiken verflochten gewesen.
Nicht nur Medikamententests
Zu Impfstofftests schreiben die Forschenden, dass in Heimen in NRW Impfstoffe – etwa gegen Kinderlähmung – getestet wurden. Auch Probeimpfungen gegen Pocken gab es.
Den Forschenden fielen noch zwei Vorgänge auf, die nur bedingt mit Medikamenteneinsatz zu tun haben: In Viersen-Süchteln wurden stereotaktische Operationen durchgeführt, also Eingriffe am Gehirn gegen psychische Erkrankungen. Und im Mädchenheim Ratingen fielen in den Akten reihenweise Blinddarmoperationen auf, die vermuten lassen, dass es sich dabei um verdeckte Sterilisationen gehandelt haben könnte.
Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) zeigte bei der Vorstellung der Studie Anteilnahme: „Man kann das ja gar nicht mit menschlichen Worten – auch ich nicht – beschreiben, was da in unseren Einrichtungen passiert ist“. Und bot eine Entschuldigung an:
Entschuldigung – und Entschädigung?
Das tut mir unheimlich leid, was damals passiert ist.Karl-Josef Laumann, NRW-Sozialminister
Bei den Entschädigungen unterscheiden sich die Erfahrungen der Betroffenen. In der Studie heißt es, einer habe für den Aufenthalt in einer Psychiatrie Entschädigung erhalten, nicht aber für die Medikamentenvergabe. Eine andere Betroffene geht davon aus, dass sich ihr Verfahren zu einer Opferentschädigungsrente noch über Jahre ziehen wird.Das Land NRW hat sich bereits seit 2019 am Fonds Heimerziehung und an der Stiftung Anerkennung und Hilfe beteiligt. Darüber haben rund 10.000 Personen eine Leistung erhalten, insgesamt sind 100 Millionen Euro an Betroffene gegangen. Deshalb seien zurzeit keine neuen Fonds vorgesehen, so Laumann.
Das aber, meint Sylvia Wagner, eine der Studienautorinnen, habe nicht den Medikamentenmissbrauch beinhaltet. Weil es noch keine gesicherten Erkenntnisse darüber gegeben habe: „Rein faktisch haben die Betroffenen für die medikamentöse Ruhigstellung oder den Missbrauch keinen Pfennig erhalten“, sagt sie.
Dabei bräuchten sie es, weil sie bis heute unter den Folgen litten. Dem stimmt auch Thomas Frauendienst zu. Er habe über den Fonds zwar Geld erhalten, allerdings sei ihm etwas abgezogen worden, weil ihm bereits die Kirche etwas zugesprochen hätte, sagt er. Die einmalige Zahlung würde aber nicht reichen: „Wenn zum Leid noch Armut dazukommt, dann wird es praktisch unerträglich.“