Studien und Berichte zum Medikamentenmißbrauch an Kindern

Einsatz und Erprobung von Medikamenten an Kindern und Jugendlichen in den Jahren 1945−1975“ – eine Zusammenfassung – LVR 2017


Opfer leiden bis heute: Doktorandin deckt Menschenversuche an Babys und Kindern auf

Ehemaliges Heimkind spricht: „Ich bin ein Opfer der Pharmaversuche“

Medikamentenversuche und Medikamentengabe in Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Jugendhilfe und in Einrichtungen des Gesundheitswesen in NRW” – Landtag NRW 2016

Diss. Sylvia Wagner : Arzneimittelprüfungen an Heimkindern von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Neuroleptika sowie am Beispiel der Rotenburger Anstalten der Inneren Mission

Arzneimittelprüfungen an Minderjährigenim Langzeitbereich der Stiftung Bethel in den Jahren 1949 bis 1975

Vorstudie zur Erforschung des Medikamenteneinsatzes in Kinderheimen, Einrichtungen der Öffentlichen Erziehung und heilpädagogischen und psychiatrischen Anstalten

Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte
Arzneimittelstudien an Heimkindern



Sylvia Wagner: Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975

Sylvia Wagner: Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2020. 243 Seiten. ISBN 978-3-86321-532-3. D: 3

Thema

An Heimkinder wurden in der jungen Bundesrepublik Deutschland in den Nachkriegsjahrzehnten in großem Ausmaß Arzneimittelversuche durchgeführt. Insbesondere solche Wirkstoffe die krankheitsspezifisch gegen Epilepsie eigesetzt werden konnten wurden an den in Anstalten untergebrachten Kindern und Heranwachsenden getestet. Zudem suchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam mit Pharmaunternehmen nach Wirkstoffen gegen Bettnässen, Übergewicht, Verhaltensauffälligkeiten und zur Förderung des Hirnstoffwechsels. Der oft auch sedierende Medikamenteneinsatz diente zudem dazu, die Ordnung des Heimes und den Gehorsam der Kinder herzustellen. Am Beispiel der Rotenburger Anstalt und einer umfangreichen Sichtung von Fachzeitschriften sowie Materialien aus Archiven von Pharmaunternehmen, wie dem der Firma Merck KGaA untersucht die Autorin die Frage des illegitimen, da von keinem Erziehungsberechtigten erlaubten Medikamenteneinsatzes und kontextualisiert diesen.

AutorIn oder HerausgeberIn

Dr. Sylvia Wagner ist Pharmazeutin und arbeitet freiberuflich als Pharmaziehistorikerin.

Entstehungshintergrund

Die Arbeit wurde als Dissertation am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angenommen.

Inhalt

Nach einem Überblick über den Forschungsstand zu den Bedingungen des Alltags in Heimen in der BRD wird eine Konkretisierung hin zum Thema der Arzneimittelprüfungen an Heimkindern vorgenommen. Die Autorin belegt, dass, Studien zur Arzneimittelwirksamkeit bereits im 19. Jahrhundert an Heimkindern durchgeführt wurden. Während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik setzte sich dies trotz ethisch-rechtlicher Fragen fort. So wurde die Vitamin D- Prophylaxe gegen Rachitis an diesen Probandinnen und Probanden erprobt, ebenso wie ein Serum gegen Tuberkulose. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden zudem menschenverachtende Versuche an Kindern in sogenannten Kinderheilanstalten vorgenommen. In der BRD wurde erstmals 1961 mit dem Arzneimittelgesetz die Frage des Wirksamkeitsnachweises rechtlich geregelt und 1964 waren klinische Prüfungen erstmals verpflichtend.

Im anschließenden Kapitel stellt Sylvia Wagner ihre Quellen und das methodische Vorgehen vor und begründet die Eingrenzung der Forschungsarbeit auf die Arzneimittelprüfung mit Neuroleptika. Neben einer umfänglichen Literaturrecherche in Fachzeitschriften basiert die Studie vor allem auf Archivalien der Pharmafirmen Merck und Bayer, sowie einzelner nicht systematischer Akten zu ehemaligen Heimkindern, Unterlagen der Anstalt Schleswig sowie dem umfangreichen Fundus des Archivs der Rotenburger Anstalten und einer dort umfänglich durchgeführten Sichtung der einschlägigen Überlieferung.

Den umfangreichsten Teil bildet der dann folgende Teil zu den Arzneimittelversuchen an Heimkindern. Einem einleitenden Absatz zur Wirkstoffgruppe der Neuroleptika, deren Wirkung und Nebenwirkung folgt ein Bericht zu Selbstversuchen der an der Universitätsklinik Zürich tätigen Ärztin und Arztes Cécile und Klaus Ernst. Dabei wird deutlich, wie weit die Medikamente in die Psyche des Menschen eingreifen und Persönlichkeits- und Verhaltensveränderung auslösen. Zu behandelnde Unruhe wird zum Teil verstärkt und führte dann regelmäßig zu Dosiserhöhungen.

In weiteren 13 Unterkapiteln wird jeweils ein Medikamentenversuch anhand einer zeitgenössischen wissenschaftlichen Publikation vorgestellt. Wenn bekannt war, wo diese Medikamentenversuche stattfanden, stellte die Autorin stets auch kurz die Einrichtung wie auch die Protagonisten vor und konnte wiederholt auf personelle Kontinuitäten von Medizinern hinweisen, die als „Euthanasie“-Ärzte, – Gutachter beteiligt waren oder Menschenversuche zu verantworten hatten. So fand unter anderem eine Studie Pipamperon in der Jugendpsychiatrie Viersen-Süchteln am Niederrhein statt. Für Schleswig-Hesterberg beschrieb Sylvia Wagner sechs Medikamentenversuchen darunter eine zu Haloperidol mit der Indikation den Sexualtrieb bei männlichen Jugendlichen zu dämpfen. Dass dabei noch deutlich mehr Einrichtungen und Kliniken in solche Studien eingebunden waren, wird wiederholt dargestellt. Ein umfangreicherer Abschnitt widmet sich den Arzneimittelprüfungen in den Rotenburger Anstalten und kann hier mit beeindruckenden Fallbeispielen davon betroffener Jugendlicher die Situation der Mädchen und Jungen und den Blick der Forschenden auf sie detailliert darstellen.

Eine rechtliche und ethische Einordnung der Arzneimittelerprobung nimmt die Autorin im nächsten Kapitel vor. Unter anderem geht es um die Frage der Einwilligung der Jugendlichen bzw. ihrer gesetzlichen Vertretung, die allein vom ärztlichen Ehrenkodex unabdingbar gewesen sei, sich aber in keiner der gesichteten Unterlagen fand. Sehr deutlich kommt die Studie zu dem Schluss, dass kein Hinweis für eine voraus schauende Kosten-Risiko-Analyse zu finden war, jedoch sogar absehbare und erwartbare Risiken für die Jugendlichen kein Grund darstellten, die Versuche abzulehnen.

In dem letzten Abschnitt wird neben einer Zusammenfassung noch nach Kontinuitäten aus der NS-Zeit gefragt, sowie die Motivation der Beteiligten bei den Arzneimittelversuchen untersucht. Neben Hinweisen, sich den Alltag im Heim durch angepasstere Bewohnerinnen und Bewohne zu erleichtern, fanden sich auch fanden sich auch Indizien, dass eine monetäre Gratifikation möglicherweise größere Bedeutung hatte wie eine wissenschaftliche Reputation.

Diskussion

Mit dieser Arbeit liegt eine erste weitreichende Forschung zu Arzneimittelerprobungen an Heimkindern und -jugendlichen vor, die sowohl medizinische mit rechtlich-ethischen und historischen Fragen verknüpft. Es wird klar Stellung bezogen, dass diese Erprobungen nach den gängigen Codizes zu verurteilen sind und meist institutionellen Interessen dienten. Diese Dissertation kann ein Anfang sein, weitere Forschungen zu Medikamentenversuchen anzuregen, bisherige verstreute Publikationen zusammenzuführen und systematisch Projekte mit neuen Fragestellungen anzugehen. So kann auch noch deutlicher die Rolle der Pharmaunternehmen oder auch der Universitäten, die mit Studien betraut wurden untersucht werden. Möglich sind auch Studien zu den Institutionen selbst, inwieweit sie offensiv sich um Medikamentenerprobungen bewarben und dies in ihr Konzept einbanden. Deutlich kann zudem betrachtet werden, inwieweit der Conterganskandal eine Veränderung in der Praxis solcher Versuche einläutete.

Fazit

Die fundierte und schon vor ihrer Publikation bereits in den Medien vielfach rezipierte Arbeit stellt einen wichtigen Beitrag in der medizin- und sozialgeschichtlichen Forschung von Heimen und Psychiatrischen Einrichtungen dar. Es wirft den Blick darauf, dass diesen Menschen in unterschiedlichster Weise – auch durch Arzneimittelerprobungen- Gewalt angetan wurde. Diese wertvolle Forschung sollte Anlass sein, das Thema weiter zu verfolgen und ebenso engagiert wie die Autorin, sich parteiisch für die Betroffenen einzusetzen.


Rezension von
Dr. rer. soc. Gudrun Silberzahn-Jandt
Referentin Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V., freiberufliche Kulturwissenschaftlerin Esslingen, Lehrbeauftragte an Hochschulen und Universitäten
Homepage www.silberzahn-forschung.de